Wir bereuen es abgelenkt zu sein
#48 Als hätten wir keine Kinder, sondern wären selbst welche.
Seit zwei Monaten wird unter uns gebaut. Wände wurden durchbrochen und an anderer Stelle aufgebaut, Fenster gingen, andere entstanden. Während wir bei meinen Eltern unter dem Dach aus Kisten leben, entsteht unser neues zu Hause. Ein Zu Hause, in dem unsere Tochter aufwachsen soll und das unserem Leben die nächsten Jahrzehnte einen Rahmen geben wird.
Unsere Tochter und diese Wohnung werden Melina und mich beim Altern begleiten… Und dieses Mal geht es nicht um ein „Anfang 30 - Alt“, sondern um das echte Altwerden, vielleicht sogar “erwachsen werden”?
Rubys Geburt war zweifelsfrei der menschliche Durchbruch für uns als Paar. Alles hat sich verändert. Gemeinsame Routinen wurden entfernt und an anderer Stelle aufgebaut, Lieblingsbeschäftigungen gingen, während andere entstanden. Jeden Abend um halb 10 schlafe ich ein, sobald mein Kopf das Kissen berührt.
Das zwischenmenschliche Gegenstück zur Baustelle unter uns.
Mir geht eine Frage durch den Kopf: War es denn zu zweit weniger anstrengend? Sind kinderlose Probleme leichter zu lösen? Immerhin drehen sie sich nur um die Einzelperson oder das Paar…
Einige Freunde und Kollegen mit kleinen Kindern sehen das so und nehmen Menschen ohne Nachwuchs weniger ernst.
Ich bin nach den ersten drei Monaten als Vater und als jemand der beruflich Kinder betreut, anderer Meinung, halte die Fokussierung auf „größer werdende Probleme“ für eine Ausrede. Menschen ohne Kinder sind nicht egozentrischer oder weniger empathisch.
Das Problem, der Stress, die Veränderung passiert nicht durch das bedürftige Kind. Es passiert in den Eltern.
Während das Kind immer mehr spielt, scheinen es die Eltern immer weniger zu dürfen. Klar, mit dem Kind spielen ist erlaubt, aber für sich selbst? Sich ausprobieren, etwas bauen, entwerfen, verwerfen, irrational sein, schreiben, betrunken sein, miteinander schlafen… Dafür scheint immer weniger Zeit.
Viel wichtiger sind:
- Kredit sichern, das Haus renovieren und Rücklagen für kommende Schäden bilden,
- Arbeiten um Geld zu verdienen,
- Geld für die Ausbildung des Kindes sparen,
- an der Börse Geld für die eigene Rente investieren,
- neue Freunde finden, die auch Kinder haben, die dann miteinander SPIELEN können, während sich die Eltern über den Beruf unterhalten,
- Per App Schlaf- und Biorhythmus des Kindes verstehen,
- Vorbild sein, nicht fluchen, sinnvoll handeln, trotzdem GLÜCKLICH SEIN?
Aus spielen wird… sparen, vernünftig sein, langfristig denken.
Aber brauchen wir als Eltern nicht das SPIEL um glücklich zu sein?
Dafür stellen Kapitalismus und Marketing-Teams Erwachsenen-Spiele als Ersatzmittel bereit:
Fußball schauen, Videospiele, Social Media, Shopping, Streaming-Dienste…
das muss reichen und geht sogar mit Kind.
Gemeinsam vor der Switch, bei Smyth Toys, im Stadion oder etwas für die Kleinen bei Disney+ aussuchen.
Das hat nichts mit spielen zu tun.
Es ist Unterhaltung.
Passiv statt Aktiv.
Was nicht heißt, dass Unterhaltung per se schlecht ist, aber sie überwiegt häufig.
Gerade als Heilerziehungspfleger spiele ich mit den Jungs auf der Wohngruppe dann doch meistens nur ein Brettspiel, oder Dart, Playstation, Basketball.
Wir schauen einen Film, gehen auf vorgegebenen Wegen wandern. Wenig passiert “querfeldein”, wenig ist wirklich “frei”. Struktur, Wiederholung und Regeln dominieren.
Der Fokus liegt auf “funktionieren”.
Wirklich freies und offenes Spielen mit einem Kind zu fördern ist herausfordernd.
Malen ohne Vorlage, Musik machen ohne Noten, Lego ohne Anleitung, Spielen ohne Ziel.
Nichts vorgegeben, kein Google Maps für die eigenen Gedanken. Das findet immer weniger statt. Es scheint bei den Kindern immer früher abzunehmen… den vorgefertigten, engen Rahmen der Spiel-Angebote (ob digital oder analog) sei Dank.
Wir müssen Erwachsene suchen und uns als Vorbild nehmen, die sich das Spiel bewahrt haben. Die hin und wieder handeln als hätten sie keine Kinder, sondern wären selbst welche.
Austin Kleon, Van Neistat, Patti Smith… kommen mir in den Sinn.
Wenn wir es als Eltern schaffen diese eigene Freiheit im Spiel vorzuleben und dabei etwas weniger seriös und auf Probleme und Geld fixiert sind…
- Wir brauchen wieder Hobbys! -
dann gewinnt das Kind und die Familie.
Das steigert Unabhängigkeit, Kreativität und Selbstbewusstsein.
Das gelingt natürlich nicht immer, aber es sollte versucht werden.
Also sind Eltern-Probleme jetzt doch größer?
Nein, es ist nur eine wichtige Aufgabe dazu gekommen, der man häufig einfach nicht gerecht wird, weil die Rahmenbedingungen es nicht zulassen.
Freies Spiel funktioniert nicht wenn man in Gedanken bei der Arbeit ist.
Freies Spiel will kein Geld verdienen und auch nichts kaufen.
Es braucht Zeit und Aufmerksamkeit.
Wenn wir Eltern auf Probleme kinderloser Paare herabschauen, wissen wir insgeheim,
dass wir dem Kind zu selten unsere Zeit und volle Aufmerksamkeit schenken.
Wir suchen die Schuld bei den Rahmenbedingungen, die wir verändern könnten.
Wir versuchen das eigene festgefahrene Handeln mit unserem stressigen Familienalltag zu rechtfertigen.
Wir bereuen es, abgelenkt zu sein.
Bis zum nächsten Mal!
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