Warum darf Opa eigentlich immer noch Filme machen?
#40 Niemand braucht eine Oasis-"Reunion" oder Gladiator 2! Oder?!
Dass ich heute über Alte in der Popkultur schreibe hat drei Gründe: Erstens spielt Oasis wieder Konzerte und alle sind aus dem Häuschen, Zweitens veröffentlicht Nick Cave am 30. August sein neues Album “Wild God” und am 26. September darf dann Megalopolis, das seit Jahrzehnten geplante Projekt von Francis Ford Coppola, in die Kinos. Aber brauchen wir das? Und werden wir wirklich wieder Alben, Konzert- oder Kinotickets kaufen? Wie bedeutend, wie zeitgemäß sind aktuelle Arbeiten der Ü60 Truppe? Ewige Wiederholung oder doch kreative Durchbrüche von Menschen, die nichts mehr zu beweisen haben?
Als Oasis vorgestern ihre “Wir werden in einem Monat wieder richtig reich”-Tour ankündigen, bekommen sich Medien und “Fans” gar nicht mehr ein. Die Storys sind gepostet, die Pläne nach England zu fliegen geschmiedet… Da fühlen sich auf einmal auch 30 jährige als hätten sie zusammen mit Noel und Liam die 90er erlebt. Die Brüder sind 54 und 57, und spielen jetzt viermal Wembley. (heute scheint es ja nur noch darum zu gehen wie oft man Wembley spielt…Taylor hat übrigens 4 mehr)
Was sind die Zutaten dieses “Tour-Erfolgs”? Vier Hits, zwei riesen Egos, und vieeeeel Social Media. Und dann singen wir alle zusammen, mit Tränen in den Augen, “Don’t look back in Anger” und “Wonderwall”… ach das wird so schön. Egal was es kostet oder? Heute am Donnerstag sollen die Preise bekanntgegeben werden. Mein Tipp: 150 Euro. Aber das ist es Wert! Zwei “LEGENDEN” endlich ZUSAMMEN live sehen. Genug Sarkasmus…
Es interessiert mich ehrlich gesagt einen Scheiss.
Wie relevant und erfolgreich waren und sind Menschen über 60 in unserer Popkultur?
Um das zu beantworten brauchen wir Zahlen als Grundlage. Für unsere kleine Inventur nutze ich vier “die 100 besten aller Zeiten”- Listen und schaue wie alt die Künstler und Künstlerinnen bei der Veröffentlichung waren:
Musik-Alben von Apple
Drehbücher von der Writers Guild of America
Filme von Imdb
Literatur vom Times Magazine
Jetzt zur Auswertung. Ich habe schnell gemerkt dass 400 Werke meinen zeitlichen Rahmen sprengen und mich auf die ersten Zehn dieser Listen konzentriert:
Bei den Top 10 Musik-Alben liegt das Durchschnittsalter der Künstler und Künstlerinnen bei 26,5 Jahren. Die älteste ist Beyonce (Lemonade), die jüngste ist die erstplatzierte Lauryn Hill (The Miseducation of Lauryn Hill) mit 23.
Die Produzenten der Alben waren mit durchschnittlich 32,7 Jahren zwar älter, aber nicht viel … was auch daran liegt, dass bei sechs der zehn Alben die Artists selbst Hauptproduzenten waren. (Der älteste Produzent war mit 47 Jahren Dr. Dre als Produzent von Kendrick Lamar’s “good kid, m.A.A.d city”)
Und niemand war über 60.
Jetzt zu den Drehbüchern. 40,5 Jahre ist hier das Durchschnittsalter. Der Listen-Älteste ist Charles Brackett der 1950, als mit 57, als einer von drei, das Drehbuch zu “Sunset Blv.” schrieb.
Bei den Drehbüchern fällt auf das häufig junge und alte Autoren zusammenarbeiten: Zum Beispiel Puzzo (50) und Coppola (30) beim Schreiben von “der Pate” oder Mankiewicz (43) und Welles (25) bei “Citizen Kane”. Das Radikale der jüngeren, kombiniert mit dem Handwerk der Älteren…
aber wieder Niemand über 60.
Filme: Durchschnittsalter der Regisseure bei Veröffentlichung ihrer Filme: 40.
Der Jüngste war Tarantino (Pulp Fiction) mit 30, der älteste der indische Regisseur Vidhu Vinod Chopra mit 70, dessen Film “the 12th Fail” sich gerade auf Platz 10 der Imdb-Liste befindet. Ehrlich gesagt noch nie davon gehört…
Ein Mann über 60.
Als letztes Literatur. “Da könnte es anders aussehen”, dachte ich vor der Auswertung. Am Schreibtisch sitzen und schreiben? Das lässt sich doch bis ins hohe Alter auf hohem Niveau bewerkstelligen… 41,4 Jahre waren die Künstler im Schnitt bei der Veröffentlichung… nicht ganz was ich erwartet hatte. Der Jüngste war mit 29 F. Scott Fitzgerald als er “The Great Gatsby” schrieb.
Mit 63 war J.R.R. Tolkien bei Veröffentlichung von “The Lord of the Rings” der Älteste (angefangen hatte der die Bücher aber mit 40)
Ein Mann über 60.
Bei 40 der wichtigsten Werke unserer Unterhaltungs- und Populärkultur waren also nur zwei Menschen älter als 60!
Fast so selten wie alte Männer sind übrigens Frauen in diesen Listen.
Gerade mal vier Frauen schaffen es unter die 40. Davon belegen mit Harper Lee (To Kill a Mockingbird) und Lauryn Hill (The Miseducation of Lauryn Hill) zwar zwei Frauen die Top-Platzierungen der Literatur und Musik-Listen, aber das täuscht nicht darüber hinweg wie festgefahren und rückwärtsgewandt unsere kulturelle Welt und unsere “Bestenlisten” heute noch sind. Wir sind ehrfürchtig vor unseren “Klassikern” und “Regie-Maestros” des letzten Jahrhunderts und zementieren damit deren Vermächtnis.
Aber wenn mit über 60 eigentlich niemand mehr was richtig Gutes auf die Reihe bekommt… warum werden wir dann heute weiterhin so oft von Opas unterhalten?
Martin Scorsese, Ridley Scott, Steven Spielberg, George Miller, Roman Polanski, Clint Eastwood und Francis Ford Coppola drehen alle mit weit über 80… die Stones stehen auch noch auf der Bühne, ganz zu schweigen von Kiss, Guns and Roses, Paul McCartney und Metallica.
Der Zenit ist weit überschritten aber die großen Namen sorgen für ein wohliges Gefühl bei den Filmstudios, Plattenfirmen und Konzertveranstaltern.
”Retro” ist angesagt. “Das Alte” wird auch auf jungen Plattformen wie TikTok am Leben gehalten.
Die zahlungsstarke Zielgruppe zwischen 30 und 60 hat oft auch nichts gegen künstlerische Nostalgie einzuwenden. “Früher war alles besser!”, während wehmütig an die 80er gedacht wird, die, filmisch gesehen, nichts anderes als eine Voll-Katastrophe waren.
Die großen Namen sollen finanzielle Sicherheit schaffen indem sie den Zuschauern “Qualität” versprechen, floppen oft aber gerade weil die Erwartungen so hoch sind.
Apple musste das am eigenen Leib spüren als sie Ridley Scott für “Napoleon” und Martin Scorsese für “Killers of the Flower Moon” mit dreistelligen Millionen-Budgets ausstatteten. “Killers…” war zwar künstlerisch kein Flop aber eben kommerziell.
“Napoleon” wurde von allen Seiten verrissen…
Filme wie “Gladiator” (Ridley Scott war bei Veröffentlichung jugendliche 63) oder “Wolf of Wall Street” (Scorsese 71 Jahre alt) lassen sich bei zunehmendem Alter, auch von Meistern ihres Fachs, einfach nicht mehr so aus dem Ärmel schütteln.
Ich gönne es den Alten, dass sie noch drehen dürfen. Und die Ergebnisse sind oft auch annehmbar… aber sie dürfen das nur, weil sie den Studios in der Vergangenheit Milliarden in die Kassen gespült haben, weil sie große Namen haben und man ihnen zutraut innerhalb des Budgets zu bleiben (nehmen wir da mal Francis Ford Coppola raus, der in den 90ern so viele Flops produziert hat, dass ihm keiner mehr Geld gibt und die 100 Millionen für “Megalopolis” selbst aufbringen musste…)
Was Apple mit großen Namen machen, macht Disney mit Franchises. Erst gestern kam ein neues Star Wars Videospiel, ständig wird eine Serie produziert und neue Filme sind auch in der Pipeline, obwohl wir uns an die letzten Drei, auch mit ganz viel Anstrengung, wenn überhaupt, lückenhaft erinnern können. Das gleiche passiert mit Marvel (Deadpool/Wolverine) und Disney Klassikern… Mufasa???! WTF? Wer braucht das? Wer schaut das?
Jetzt wird es Zeit in diesem Brief die Kurve zu bekommen… Es kann doch nicht alles schlecht sein oder? Nein, natürlich nicht! Hier kommen Lichtblicke.
- Es gibt Greta Gerwig (41), die spätestens nach den “Barbie”-Milliarden alles drehen darf was sie möchte, oder Emerald Fenell (39), die mit “Saltburn” polarisiert, oder Chloé Zhao (42), die fantastische Filme macht (Nomadland zum Beispiel)
- Jane Champion ist eine der wenigen Regisseurinnen, die mit 70 noch Filme produzieren “darf” (Power of the Dog)
- In den letzten Jahren gab es Überraschungsfilme wie “Parasite” oder “Everything Everywhere All at Once” die auch mit Oscars gewürdigt wurden.
- Europäische Filme scheinen in Hollywood mehr Beachtung zu finden… “Zone of Interest” , “Anatomie eines Falls” - (die ich beide immer noch nicht gesehen habe)
Das Potenzial ist da! Aber wieder einmal kommt es auf uns an. Was fragen wir nach? Lauf’ ich doch wieder ins Kino um “Gladiator 2” zu sehen, nur weil ich als 10 jähriger am Ende von “Gladiator” geheult habe und seitdem nicht mehr aufhören kann Russell Crowe super zu finden?! Soll ich vergessen dass Ridley Scott seitdem Filme wie “The Last Duel” gemacht hat??…einer der wenigen Filme, die ich wirklich abbrechen musste (ist vielleicht Geschmacksache…)
Ich will kein Gladiator 2, ich will auch kein Mufasa oder einen neuen Star Wars Film… und mir ist auch SCHEISS EGAL ob Oasis nochmal auf Tour geht! …lasst die alten Männer, alte Männer sein und traut den jüngeren Menschen etwas zu! Und zwar allen Geschlechtern.
Wir sollten das letzte Jahrhundert als abgeschlossen begreifen. “Der Pate”, “Citizen Kane”, “Chinatown”… alles grandios, alles hat seine Daseinsberechtigung,
aber wenn wir die ganze Marvel-Scheisse und Star-Wars-Kacke los sind…
KÖNNTEN WIR DANN NICHT WIEDER ANFANGEN GUTE FILME FÜR’S 21. JAHRHUNDERT ZU MACHEN???
Und mit WIR meine ich EUCH, die FILM-STUDIOS!
Wes Anderson darf doch auch immer weiter Filme drehen, obwohl 90 Prozent davon kommerziell floppen…
Jetzt hätte ich fast Nick Cave vergessen. Warum hat man bei Nick Cave immer das Gefühl, das der noch relevant ist? Weil er sich entwickelt und sich nicht auf dem ausruht was gewesen ist. Würde der heute versuchen der zerstörerische Mensch aus den 80ern und 90ern zu sein, wäre er schon verschwunden.
Das, was ihn mit 66 so gut macht, ist seine nahbare Verletzlichkeit. Tiefgründigkeit und Weisheit aber ohne EGO.
Natürlich hilft auch, dass jeden Tag aufs neue, junge Menschen zum ersten Mal
“O Children” hören, während sie Harry und Hermine in “Harry Potter - die Heiligtümer des Todes Teil 1” beim Tanzen zuschauen (der einzige Muggel-Song der gesamten Reihe… was ein Geschenk von David Yates, der das Lied aus 300 Songs auswählte und später sagte “It has that capacity to lift you up and break your heart at the same time.” Ich freue mich jedenfalls auf WILD GOD!
Wer einen guten, aktuellen deutschen Film sehen möchte schaut “STERBEN”
Unbedingte Empfehlung. Ist lang, aber keine Minute zu lang.
Bis zum nächsten Mal
(Wenn du mehr lesen möchtest, schau auf meiner Blog-Seite vorbei, für Videos auf meinem Youtube-Kanal)
Dein Felix