Substanz ist nicht erwünscht.

Bin ich auf dem Weg zum "menschlichen Rollrasen"?

Ich erinnere mich selten an Lehrreiches aus Büchern oder Interviews.
Aber ein Bild bleibt mir, seit ich es vor Jahren zufällig gesehen habe, im Kopf. Auf menschliches Verhalten bezogen, wird daraus eines der stärksten SINNBILDER die ich kenne.
Lass mich mit dem Bild anfangen:

Die Luftaufnahme, zeigt ein Gebäude inmitten eines grünen Gartens, inmitten einer asche-grau verbrannten Umgebung. Nicht irgendein Gebäude, sondern ein Aufnahme-Studio. Woodshed Recording in Malibu, Kalifornien. In diesem “Holzhaus” haben die bekanntesten Acts Musik aufgenommen…
Miley Cyrus, Coldplay, Lady Gaga, Harry Styles, Lizzo, bleachers, Metallica, Nick Cave & the Bad Seeds, … die Liste geht weiter und weiter. Aber wie hat diese unscheinbare Hütte einen der größten kalifornischen Brände der letzten Jahre fast unversehrt überstanden?

Der Besitzer des Studios Richard Gibbs (der Dude selbst hat den Soundtrack von Dr. Dolittle geschrieben) erklärt während einer Studio-Tour (ab 23:29) warum.

1. Seine Frau sei Gärtnerin und habe einen speziellen Garten mit spezieller Erde um das Haus herum angelegt:

„This soil around here is amazingly rich. And the roots go down three feet deep, whereas in an average lawn the roots go maybe four five inches. When those roots go that deep you get this infrastructure down there called a soil carbon sponge. That Soil Carbon sponge will hold up to 30 times its weight in water. Wrap your head around that. It’s just holding this reservoir three feet deep of water. None of the stuff around studio, none of the greenery burned.“

Tiefe Wurzeln, die, im Gegensatz zu klassischem Rasen, das 30 fache des Eigengewichts in Wasser speichern. Also ein Schwamm unter der Erde, der die Flammen zurückhält.

2. Die Bau-Standards eines Musik-Studios. Schallisoliert. Luftdicht. (ab 24:49)

„If you want to have a fireproof structure, or a house, build your house to the standards of a recording studio. Because what’s the most selling factor of a recording studio is, that it’s soundproof. Well what makes its soundproof? The air is not getting in and out. Airtight.“

Was das Haus vor den Flammen gerettet hat ist also Substanz.
Wasser im Boden. Massive, detailversessene Bauweise.
Zeitaufwändig, langfristig.
Mehr Sein als Schein.
Während der Rollrasen und das schicke Fertighaus lodern,
trotzt Woodshed dem Feuer, gibt ihm keinen Sauerstoff.

Übertragen auf unser Verhalten, unsere Gehirne und Charakter heißt das:

Substanz ist der Schutzwall zu Stumpfheit, Ablenkung, Sucht und Verschwendung.

Aber wie menschliche “Substanz” aufbauen?

Tausche Schlaf gegen Frustration und Aggressivität

Um mich einer möglichen Antwort zu nähern, erzähle ich jetzt vom genauen Gegenteil.
Von meinem persönlichen “intellektuellen Fertighaus mit Rollrasen”, lodernd in kalifornischen Flammen. FC 26.

FC 26 ist ein Spiel, das dir, wenn du wie ich über 30 bist, vielleicht eher als “Fifa” bekannt ist. Fußball als Videospiel. Früher spaßiges, unschuldiges Kräftemessen für Jungs in ihren Kinderzimmern, heute eine süchtig machende Gelddruckmaschine, der die USK das Label ab 12 geben musste.

“Erhöhte Kaufanreize” und “Druck zum Vielspielen” sind die Gründe.

Vom eigentlichen “Spiel” ist heute in einigen Videospielen nichts mehr übrig. Neben FC, sind das überwiegend Online-Spiele wie Fortnite, Call of Duty und Rocket League. Perfekte Suchtmittel, repetitiv, psychisch manipulierend. Digitaler Status für echtes Geld.
Aber zurück zu meiner ganz persönlichen Erfahrung mit der “Fußball-Simulation” von Electronic Arts.

Als ich FC 26 kurz nach dem Release, als seltene "Belohnung für gute Entscheidungen an der Börse kaufe, um mich von genau dieser Börse abzulenken (mehr Rollrasen geht nicht), habe ich seit Jahren kein Videospiel online gespielt.

Zwei Monate später stehen 4T 13S 57M Spielzeit im Startbildschirm. Fast 110 Stunden Lebenszeit, überwiegend geopfert für Frustration und Aggressivität.

Im “Ultimate Team”- Modus dem kapitalistischen Herzstück des Suchtmittels, versuche ich ein möglichst gutes Team aufzubauen. Das sieht ungefähr so aus:
Online gegen andere Menschen spielen, meistens verlieren, sich ärgern, trotzdem Münzen bekommen, Päckchen kaufen (so ähnlich wie früher Pokemon, nur digital), hoffen das sich gute Spieler darin befinden, sich ärgern, dass sich keine guten Spieler darin befinden, weiter spielen, weiter ärgern.

Hier hätten wir eine Definition von Substanzlosigkeit.

Ein 33-jähriger Familienvater, mit einem Xbox-Controller in der Hand, der benötigten Schlaf, für “noch eine Runde” eintauscht um dann gegen 23:45 Uhr frustriert und möglichst leise ins Bett zu Frau und Kind kriecht.

Geld habe ich keins ausgegeben, dafür ist mir digitaler Status zu fremd, aber die Kinder und Jugendlichen sehen das anders. Wer unbedingt einen besonderen Legenden-Spieler (eine ICON) ziehen möchte, kann ein spezielles virtuelles Päckchen für 450.000 Coins (dafür hätte ich mindestens 200 Spielstunden gebraucht) oder für 3500 Points (dafür werden ca. 30 Euro fällig) kaufen. 30 EURO FÜR EINE DIGITALE KARTE?!?

Würde sich die Welt für Kinder-Gesundheit interessieren, müsste aus der 12 eine 18 und aus dem grünen ein rotes USK-Schild werden.

Seit einer Woche habe ich kein FC 26 mehr gespielt.

Zum Schwamm werden (ein Lösungsansatz für mehr Substanz)

Die beste Art mich bei diesem Thema einer Lösung zu nähern ist mit Hilfe eines Koordinatensystems.
Zwei Variablen:
1. Tue ich etwas (Output) oder nehme ich auf (Input)?
2. Bin ich belebt oder ausgelaugt wenn ich fertig damit bin?

Für mich gilt, je mehr ich mich rechts oben aufhalte desto besser, gefolgt von links oben, rechts unten und links unten.
Mehr Output als Input. In der heutigen Zeit fast unmöglich. Und ja, man könnte argumentieren, dass unsere Jobs “Output” sind. Aber acht Stunden im Call Center genervten Menschen erklären, wie sie den Router einrichten (ein Beispiel), ist aber eben Output der auslaugt.

Das was uns komplex, vielschichtig, resistent und tief macht. Das was uns zum SCHWAMM macht, ist belebender Output.

Social Media-Konzerne, OpenAI, Amazon und Videospiel-Publisher mögen keinen “belebenden Output” weil er nicht zum Kaufen animiert. Sie wollen ausgelaugte Süchtige, die sich, mit Hilfe eines Klicks, eine kleine Freude machen.

Sie wollen uns abhängig. Sie wollen, das wir ChatGPT fragen wie wir unsere Probleme lösen, was wir in die Geburtstagskarte für die Mutter schreiben…, dass uns “Shorts” zeigen was wir kochen, wie wir trainieren und was wir anziehen sollen.
Sie wollen uns ohne SUBSTANZ im Innern. Ohne eigene Stimme. Ohne Vision.

Je mehr wir uns unten links aufhalten, desto weniger schaffen wir es eigene Antworten und Lösungen zu finden. Ohne Internetverbindung werden wir zum Rollrasen, der verpufft sobald emotionale und intellektuelle Waldbrände über uns hinweg walzen.

Was tun?

Ich bin auch nur einer der versucht gegen meine eigene Substanzlosigkeit anzukämpfen. Die folgenden Punkte sind keine Belehrung, nur ein Versuch. Vielleicht ein Licht am Ende des Tunnels.
- Nicht in die untere Hälfte (Das UPSIDE DOWN…für alle die gerade Stranger Things schauen) abtauchen. In der oberen Hälfte bleiben.
- Langsame, vollwertige und menschliche Inhalte konsumieren und Zeit zum Verarbeiten nehmen.
- Lernen, teilen, produzieren, etwas mit den Händen machen, Hobbys suchen.
- ChatGPT den Mittelfinger zeigen.
- Gemeinschaft.

Ich habe über 5 Stunden rechts oben verbracht und an diesem Text geschrieben. Ein erster Entwurf mit der Hand, von dem ich keine Zeile direkt übernommen habe. Den Rest am Computer.
Schreiben, verwerfen, neu schreiben. Audio-Zitate suchen und einfügen, Koordinatensystem erstellen.
Solange bis ich das Gefühl hatte, ich könnte ihn teilen, ohne mich schämen zu müssen.

Gerade bin ich zufrieden, aber immer noch am zweifeln.
Das ist menschlich.

Was das mit Erziehung zu tun hat?

ALLES. Was sollen unsere Kinder von uns lernen, wenn wir unten links hängen?
Wie man Youtube schaut? Wie man richtige “Prompts” für ChatGPT schreibt?
Bitte nicht.

“To the young artists, i want to say: Get your hands dirty and drop the screens and get out in your garage or your little room and get obsessed” - Jack White