Während ich diesen Brief beginne zu schreiben endet gerade “Final Rescue Attempt” von Wild God, dem neuen Nick Cave Album. Es ist, eine Woche nach Release, mein erster kompletter Durchlauf. Es ist, wie erwartet, “joyful” … mit diesem Hauch mythischer Melancholie, Chören und Warren Ellis’ Kopfstimme im Hintergrund.
Das ist aber nicht, wovon ich heute schreiben möchte, sondern nur ein, Authentizität steigernder, im ersten Moment unwichtiger, Einblick.
Aber das was wir hören und denken und essen und (nicht) rauchen, hat eben Einfluss auf das was wir sagen und schreiben und in die Welt entlassen… Oder?
Wir haben 220 Euro im Booking.com Wallet liegen.
Stammt von unserer letzten Reise - bei jedem Hotel wurde uns ein kleiner Teil als “Prämie” zurückgezahlt.
Während die Geburt unserer Tochter immer näher rückt, überlegen wir was wir damit machen. Verfallen lassen ist dabei die schlechteste Option.
Wir entscheiden uns für zwei Hotel-Nächte in Frankfurt.
Dabei sollte ich dazusagen, dass Frankfurt, von uns, genau eine Stunde mit der Regionalbahn entfernt ist.
Entspannte An- und Abreise… ein, bei fortschreitender Schwangerschaft, immer wichtiger werdendes Argument.
Wir wollen Sachen machen, die wir sonst immer wieder verwerfen.
Abends in eines der Programm-Kinos gehen und vegane Restaurants ausprobieren, mittags ins Museum, morgens in Ruhe frühstücken.
Je näher das Reiseziel, desto weniger stark der Druck, eine touristische Agenda abzuarbeiten.
Hin- und Rückfahrt sind schon Highlights. Die völlig überfüllte RB10 bei schlecht funktionierender Klimaanlage, das Refugium einer überlasteten Zugbegleiterin und ihres männlichen Pendants, beide kurz vor Feierabend.
Ein junges Mädchen wird lautstark aufgefordert einen Platz weiter ans Fenster zu rutschen um Platz für eine “ältere” Frau zu machen, was die “ältere” Frau unpassend findet. “Geht doch endlich mal nach hinten durch!!!” wird durch den Zug geschrien, danach wird in Selbstgesprächen die Unfähigkeit der Fahrgäste zum Thema gemacht.
Dazu drei japanische Mädchen, die auf Englisch davon überzeugt werden sollen, doch lieber im Hauptbahnhof, statt in Mainz-Kastell, in die S8 zum Flughafen umzusteigen.
Vervollständigt wird die Zug-Erfahrung von empört reagierenden Passagiere, Fahrrädern, Schülern und alten Frauen in unserem “Vierer”, die Angst haben, sich mit ihren Rollkoffern durch die verschwitzte Masse zu quetschen.
Rückblickend auf die beginnenden 20er Jahre, werden uns Allen Geschichten wie diese einfallen. Ein kollektiver Schienen-Chaos-Schmerz, der sich, Bahnreise für Bahnreise, in unser Bewusstsein brennt, und nur mit ungetrübter Heiterkeit ertragen werden kann.
Wir checken ins “Scandic - Hafenpark” ein. Ein Business Hotel gegenüber der EZB.
Es ist Mittwoch-Nachmittag und Geschäftsreisende checken ein und aus.
Sportlich, gebräunte, teure T-Shirt tragende, lässige Business-Männer in ihren 40ern.
Dicke, blasse, teure Langarmhemden und Uhren tragende, autoritäre Business-Männer in ihren 50ern.
”Ah, mit ihrem Zimmer können sie unseren Living-Room nutzen. Im zehnten Stock, alle Getränke und Snacks sind kostenlos”, versucht die Rezeptionistin Begeisterung bei ihrem weißhaarigen Gegenüber auszulösen. Es wird gleichgültig hingenommen.
Ich kann mir vorstellen, dass für Geschäftsreisende nach einigen Jahren nur noch ein “Living Room” zählt… und das ist der zu Hause.
Abends um 9 sitzen wir im Harmonie-Programmkino. Eine knatschige Tüte Popcorn, ein Wasser und eine Cola Zero in Glasflaschen stehen vor uns auf der Holzablage.
Wie in den meisten alten, kleinen Kinos schaut man vom Parkett unangenehm “nach oben” und vom Rang, ebenso unangenehm, “nach unten” auf die Leinwand, während das Soundsystem blechern scheppert…
Dafür ist die Dichte “hipper” Menschen besonders hoch.
Das gilt es bei der Film-Auswahl für die heutige Sneak-Peak (7,50 €) zu berücksichtigen.
Also läuft “La Bête” (die Bestie), ein französischer Film der 2023 beim Filmfestival von Venedig für irgendwas nominiert war, aber nichts gewann.
Bei uns gewinnt er auch nichts. Die Geschichte rund um Menschlichkeit, KI und bereinigte DNA ist lose, oft zusammenhanglos und schafft es nicht unsere momentane Realität zu überdecken.
Die stickige warme Luft im Raum bleibt stickig und warm.
Deshalb gehen wir nach einer Stunde, während die hippen Menschen, mehr verstehen, mehr fühlen und mehr sind als wir.
Dann der Rückweg durchs nächtliche Frankfurt bei klarem Himmel.
Was war dein größter Sneak-Peak-Flop?
Karriere-Menschen beim Frühstücksbuffet (das übrigens fantastisch ist… sogar vegan gibt es einiges) zu beobachten ist eine meiner kleinen Freuden.
Die Arbeit scheint hier beim Frühstück zu beginnen.
Zwei Männer, einer davon ausschweifend gestikulierend, diskutieren.
Einer von beiden übernimmt nach 10 Minuten verbal die Führung, der Andere ergibt sich und lässt es, “zuhörend”, über sich ergehen. Subtile Machtkämpfe unter der grünen Moos-Wand.
Oben im Zimmer, schaue ich auf die EZB und frage mich was die Leute darin gerade machen.
Es geht um den Leitzins, also geht es um Wirtschafts- und Konsumdaten. Die gilt es auszuwerten. Ganz oben wird dann entschieden… für mehr reicht meine Vorstellungskraft nicht.
Wer kann das was heute immer noch als “Karriere” gilt, wirklich wollen?
Money, Money, Money, Money, Money … aber keine Zeit fürs Leben. Kein Zeit im eigenen “Living-Room”.
Wir starten den ersten Tag in den “Schwanheimer Dünen”, ein sandig, trockenes Naturschutzgebiet, 9 km vom Frankfurter Zentrum entfernt. Ein Steg führt durch eine Landschaft, die ein Meer in der Nähe vermuten lässt. Aber statt Meer, grenzen nur die Schornsteine der Industrie an. Die Ruhe ist trotzdem angenehm.
Wir sitzen auf einer Bank, und lesen, wie jeden Donnerstag, das was uns die AOK App über unsere kleine Tochter in ihrer Wasserblase erzählt:
Dreißigste Woche, entscheidende Phase für die Hirnentwicklung.
In zwei Wochen können wir uns für die Geburt anmelden.
Die Zeit verrinnt.
Gerade beginnt “Wild God” zum dritten Mal.
In der prallen Sonne verlaufen wir uns, bevor wir den Bus finden, der uns zur S-Bahn bringt, die uns richtung Zentrum fährt, bevor wir aussteigen müssen, weil im Frankfurter Tunnel ein medizinischer Notfall behandelt wird.
Wir nehmen den nächsten Zug, steigen bei der “Konstabler Wache” aus und suchen einen Snack. Das “Zeil Kitchen” gibt es nicht mehr, also in die U-Bahn, zwei Stationen weiter, Bäcker Kahl!
Eine Familien-Bäckerei mit verblasstem Schild. Der Verkaufsraum hat sich seit den 90ern nicht verändert (erinnerst du dich, dass es in den alten Bäckereien immer Esspapier zu kaufen gab?)
Das ist kein “Trend”-Bäcker, sondern ein Laden der aus Überzeugung handelt, was erklärt warum Bäcker Kahl, schon bevor “vegan” zum Hype wurde, anfing, auch rein pflanzliche Backwaren herzustellen.
Bis heute unverändert, bei wechselndem Sortiment.
Ich esse, wie immer wenn wir hier sind, einen Erdnuss-Schoko-Kuchen.
Melina ist experimentierfreudiger und entscheidet sich für ein Marzipan-Apfel-Stückchen und einen gesunden Dinkelkeks.
Zurück ins Hotel. Ausruhen. Mittagsschlaf.
Eine Stunde vorm Ende der Öffnungszeit kaufen wir ein Kombiticket im deutschen Filmmuseum. Sonderausstellung: “Neue Stimmen - Deutsches Kino seit 2000”
Aufwendig ausgestellte Projektoren, Daumenkinos und Illusionen zeigen im ersten Stock die Entstehungsgeschichte des Films.
Nach dem Technischen geht es ums Erzählen: Storyboards, Drehbücher, Themen-Interpretationen verschiedener Epochen. Hin und wieder darf man selbst etwas tun.
Selbst Shots zu einer Szene zusammensetzen zum Beispiel.
Neben dem Feiern neuer deutscher Filme, kritisiert die Sonderausstellung, ganz leise, auch das deutsche Finanzierungs-System. Konventionellere Werke würden häufig stark subventioniert. Künstlerischer und thematischer Vielfalt fehlt häufig das Geld.
Kurz gesagt: Das was sich sowieso an den Kinokassen verkauft, bekommt im Vorhinein Geld. Alle anderen Projekte eher nicht.
Wir essen im “269” zu Abend. Israelisch, komplett vegan, lecker.
Sehr zu empfehlen.
(im Gegensatz zu “bei Frau Nanna”, wo wir den Abend davor essen)
Am nächsten Tag überfresse ich mich beim Frühstücksbuffet, bevor wir um 10:30 auschecken und unsere Rucksäcke in den Schließfächern im Hauptbahnhof (eklig) deponieren. Drei Polizisten stehen vor diesen Schließfächern und einem Drogenabhängigen, der sich sich verschämt am Kopf kratzt.
Dann gehen wir eine Stunde durch die Geschäfte auf der Zeil.
Melina kauft bei H&M eine Hose für Schwangere, weil es bei P&C keine gibt.
Diese Art von Kleidung wird immer Kompromiss bleiben.
Auch unser letzter Trip zu zweit, startet als Kompromiss, entpuppt sich aber als erfüllend.
Ganz entspannt. Ohne touristisches Abarbeiten.
Kurzurlaub ganz in der Nähe kann Spaß und Sinn machen.
Wir hatten eine gute Zeit miteinander und freuen uns jetzt darauf
bald eine Familie zu sein.
Kinder übernachten und essen im “Scandic” bis zwölf Jahre kostenlos…
Bis zum nächsten Mal!
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