Die Weihnachts-Utopie
#52 Alles Zwischendurch.
Ich habe nicht viel Zeit. Es ist 6:43 Uhr, in diesem Moment kommt Melina aus unserem Schlafzimmer geschlichen, stellt mir das Babyphone neben den Laptop auf den Esstisch und verschwindet im Bad.
Da bewegt sich die Kleine zum ersten Mal.
Damit ist alle Konzentration weg, jedem Funken Fokus der Sauerstoff entzogen . Kein “an Sätzen feilen”, kein “besser machen”… Mit dem Text fertig werden ist alles was ich erwarten kann.
Bei Allem unterbrochen werden, ist eine der größten Umstellungen mit Kleinkind.
Die Stunde die ich sonst gebraucht habe, um “reinzukommen” ins Schreiben oder was auch immer, ist jetzt alles was geht.
Mehrfach am Tag schleichen wir uns aus Betten und Zimmern, hoffen auf ausgiebigen Mittagsschlaf, aber nicht zu lange, weil das bedeuten würde, dass der Nachtschlaf sich nach hinten schiebt.
Sport passiert zwischendurch, Melina macht neben mir gerade Ausfallschritte, bevor sie dehnend auf dem weichen Schaumstoff-Spiel-Kinder-Teppich liegt.
In zehn Tagen ist Heiligabend. Geht Weihnachten auch “Zwischendurch”? Kommt da überhaupt Weihnachtsstimmung auf? Bei einem Fest das von der Verlangsamung lebt?
Das Wort “andächtig” war im eigenen Wortschatz noch nie so verschüttet wie gerade.
Ich lese gerade zum ersten Mal die “Alle Toten fliegen hoch”- Reihe von Joachim Meyerhoff. Ich bin bei Teil 3, in dem er von seinen Jahren bei den Großeltern schreibt.
Ihr Tag gegliedert durch verschiedene alkoholische Getränke, unterbrochen von strikter Mittagsruhe. Die Tagesschau um 20:00 Uhr.
Der Rahmen der Tage bleibt gleich. Wie eine Schablone.
Meyerhoffs Großeltern waren reich, in Rente und mussten sich weder um Einkäufe, noch ums Kochen oder Wäsche waschen kümmern.
Der perfekte Nährboden für große Rituale und damit auch für Weihnachten.
Früher bei meinen Großeltern lief Weihnachten immer gleich ab.
Ich bin Einzelkind. Meine Mutter auch. Die anderen Großeltern tot.
Das heißt drei Tage, fünf Menschen, immer abwechselnd.
Zum Beispiel.
Heiligabend bei Oma und Opa in Schierstein - 1. Weihnachtsfeiertag bei uns zu Hause - 2. Weihnachtsfeiertag wieder Schierstein
Es fühlt sich an wie ein einziger langer Tag, dem langsam die Luft abgelassen wird. Wie am zweiten Weihnachtsfeiertag noch Gesprächs-Themen gefunden wurden ist mir bis heute ein Rätsel.
Heiligabend, wenn überhaupt, in die evangelische Kirche.
Das dauerte nicht so schrecklich lange, weniger von dieser ernsten Andacht.
Dann zurückkommen und auf das klingelnde Glöckchen warten.
Das Wohnzimmer hatten wir bis jetzt noch nicht betreten.
Gegessen wurden Braten, Rotkraut und Klöße in der Küche.
Dann das Klingeln. Die kleinen Fenster in der Zimmertür waren abgehängt gewesen.
Jetzt öffnete sich die Tür und das kleine Wohnzimmer erschlug einen.
Die, sich drehende riesige Holz-Pyramide, die irgendwann aufhörte sich zu drehen, und dann oben an den Antriebsblättern ankokelte, der Baum bis zur Zimmerdecke - bei meinen Großeltern gab es bis zum Schluss, bis zum Jahr an dem einfach kein Baum mehr aufgestellt wurde, echte Kerzen an den Tannenzweigen - , Räuchermännchen, ein Holzengel-Chor aus dem Erzgebirge, die holzgeschnitzte Krippe.
Die Geschenke standen schon auf dem Wohnzimmertisch bereit, nie unter dem Baum. Vier von uns hatten eine Ecke für sich. Der mit den wenigsten Geschenken, üblicherweise mein Vater, musste sich mit einer Geraden dazwischen begnügen.Dann wurde ausgepackt.
Überwiegend Dinge, die ich mir nicht gewünscht hatte, die aber mit meinen Interessen zu tun hatten. Meine Oma hat mir mal zwei Miniatur-Gitarren zum Hinstellen (darunter eine Gibson Explorer) auf dem Weihnachtsmarkt gekauft. Ich war großer Metallica-Fan und sie erkannte irgendwie das Gitarren-Modell, das Hetfield spielte.
Oma war begeistert von “Dingen zum Hinstellen”. Das reichte als Funktion. Ich hatte irgendwann eine Edelstein- und eine Oldtimer-Spielzeugauto-Sammlung. Die waren nicht zum Spielen. Meine Oma wollte, dass ich die Packungen aufheben. “Die werden mal gut”, sagte sie dann. Damit bekam man sie immer… Mit der Aussicht auf Wertsteigerung durch limitierte Auflagen. Die Schränke waren voller Sammel-Münzen, Briefmarken, Figuren, die später als das Haus aufgelöst wurde, nur noch einen Bruchteil vom ursprünglichen Kaufpreis wert waren.
Ich bekam auch immer ein Buch. Robinson Crusoe, Der letzte Mohikaner, Karl May-Bücher. Als ich älter war ließ sie sich im Geschäft beraten, und ich packte überwiegend “Thriller” aus.
Ein Weihnachten mussten wir für mein Geschenk in den Gewölbekeller unter dem Hof klettern. Da war mein erstes Schlagzeug aufgebaut, ohne das ich es mir explizit gewünscht hatte. Es war einfach da und dadurch noch so viel verheißungsvoller.
Der Gedanke “Da versetzt sich jemand in mich hinein, um mich zu überraschen” berührt mich bis heute.
Nach den Geschenken wurde Sekt entkorkt und dem einzigen Kind, mir, der Weihnachtszirkus aus Monte Carlo im Fernsehen angestellt. Der Sauerstoffgehalt viel rapide ab und irgendwann war der regelmäßige Gang zur Toilette notwendig, um nicht von Sekt- und Kerzen-Schwaden umhüllt, einfach wegzunicken.
Gegen 24:00 Uhr fuhren wir dann. ”Bis morgen” wurde gerufen. Ich konnte mich kaum noch halten, schlief im Auto immer direkt ein.
Ich romantisiere das. Weihnachten mit nur einem 30 Jahre alten Röhren-Bildschirm auf dem der Weihnachtszirkus flimmert. Etwas auspacken, das vorher nicht auf einer digitalen Wunschliste und unter dem Weihnachtsbaum aus Plastik mit LED-Beleuchtung lag…
Wenn ich an unser zukünftiges Weihnachten denke, ein Weihnachten das für Ruby greifbar ist, wird meine Erinnerung zur Utopie.
Ich halte nichts vom Glorifizieren der Vergangenheit, politisch und gesellschaftlich ist das unerträglich.
Aber Weihnachten ist Rückbesinnung.
An Weihnachten ist das erlaubt.
Wie ein Theaterstück, in dem wir spielen, bis es nicht mehr geht.
Und wer sagt, dass das Stück nicht 1998, 1982 oder 1978 spielen kann?


