Es ist Montag, 15:00 Uhr und das hier
ist ein Brief von mir an dich.
Danke fürs Öffnen und Lesen.
Felix
etwas aus…
meiner Kamera
Aufgenommen am 8. Juni 2023 um 6:14.
Ich teile mir mein kleines Büro unter dem Dach mit einer Vogelfamilie. Die Vogeleltern müssen am Fenster vorbei um ihre Jungen mit Futter zu versorgen. Ich mag das Zwitschern bei offenem Fenster und dieses Flattern, von dem ich Gänsehaut bekomme. Die Mini-Dinos sind nicht begeistert, wissen aber mittlerweile das von dieser, am Schreibtisch kauernden, Kreatur keine Gefahr ausgeht.
dem Film
Die gerade laufende dritte Staffel von „The Kardashians“ in die Kategorie „aus dem Film“ einzuordnen ist gewagt. Von Werner Herzog kommt, schriftlich, die Legitimation:
„Ich sehe ab und zu Trash-TV, weil ich der Ansicht bin, dass der Dichter seine Augen nicht abwenden darf. Ich will wissen, in welcher Welt der Sehnsüchte ich lebe.“
Schreibt er in „Jeder für sich und Gott gegen alle“
Puh…aufatmen. Wenn ein Intellektueller wie Herzog zuschaut dürfen wir ja auch oder? Und warum eigentlich Trash-TV? Unterscheiden sich die Kardashians wirklich grundlegend von irgendeinem, mit der goldenen Palme ausgezeichneten, Drama? „Nicht miteinander zu vergleichen“, würden die meisten sagen, aber beides soll unterhalten, beides kann berühren und zum nachdenken anregen.
Sind wir vielleicht zu oft damit beschäftigt, die Nase rümpfend und leicht abfällig auf diese Luxus-Plastik-Welt hinabzuschauen? Wir, deren einfache Leben weniger dekadent, umweltschädlich und oberflächlich sind…?
Natürlich ist da viel Unnötiges, viel Protz, viel „Amazing!“… dann die unterschwellige Konkurrenz zwischen den milliardenschweren Schwestern, die permanente Werbung für die eigenen Marken: Unterwäsche, Vitaminpräparate, Tequila, Kosmetik… Alle Kardashians arbeiten hart an ihren Karrieren. „Arbeiten?“, höre ich Teile meines Bewusstseins rufen…“die lassen doch nur arbeiten“ …wieder dieses unbewusste Abwerten und Hochhängen der eigenen Tätigkeit.
Behinderte Menschen betreuen ist wichtiger…oder? Naja… die Kardashians „lassen arbeiten“, sorgen für Arbeitsplätze: Ich nicht.
Kim, Kourtney, Khloé, Kendall und Kylie sind Produkte ihrer Umwelt. So wie wir alle. Und sie haben Probleme wie wir alle. Da ist eine Krebsdiagnose, ein psychisch kranker, in der Öffentlichkeit stehender, Ex-Ehemann oder der mediale Vorwurf die Schwestern würden in ihrer Show nicht mehr genug preisgeben.
Wir alle sehnen uns manchmal nach etwas mehr „Kardashian“ in unserem Leben. Vielleicht Geld, Berufliche Freiheit, Schönheit… und die Kardashians? Die sehnen sich vielleicht nach unserer Anonymität.
Du und ich haben, verglichen mit dem Großteil der Welt, mit unseren Geburtsorten Glück gehabt. Uns allen steckt der, „unverdiente“, auf Ausbeutung basierende, silberne Löffel im Mund. Vielleicht ist er bei den Kardashians aus Gold. Aber macht das noch einen Unterschied?
Ich schaue die dritte Staffel „The Kardashians“ auf Disney+.
meinem Tagebuch
Vom 4.6.2023 21:49 Sonntag: nach einem Arbeitstag in der Wohngruppe für geistig behinderte Jugendliche.
“Dass so viel Dummheit, Unfähigkeit und Selbstüberschätzung in einen Jungen passen. Diese verdammte Provo-Scheisse bei der man ruhig bleiben muss weil das Kind sonst bestimmt was passiert. Heftige Reaktionen sind immer Kontrollverlust für Erzieher. Bei (Name) fällt das aber auch mir schwer. Dieses unsichere Würstchen… aber was kann er dafür? Nichts. Für mich reicht es trotzdem. Ich habe keine Lust mehr.”
den Kopfhörern
In Folge 93 (Spotify | Apple Podcast) von Lanz und Precht sprechen Moderator und Philosoph wieder mal über künstliche Intelligenz. Der Grund ist, dass sich immer mehr Pioniere des Felds zu Wort melden und die eigene KREATION als „unberechenbar“ und „potenziell gefährlich“ für das Fortbestehen der Menschheit bezeichnen.
Die Rechenleistung steigt dramatisch, die Systeme lernen schneller als erwartet. Ist KI kreativ? Oder emotional? Werden wir uns satt konsumieren an perfekt auf uns zugeschnittenen Inhalten?
Vielleicht wird alles aber auch richtig schön, bequem und erfüllend zugleich… im dreidimensionalen, virtuellen Raum. Wer weiß das schon…
mir
Seit dem 25.03.2022 steht die fast leere Plastikdose “One a day” (ein Multivitamin-Präparat, das Bayer hauptsächlich in den USA vertreibt) auf der Küchenzeile. Eine einzige Tablette ist noch drin.
Die letzte Verbindung zur letzten langen Reise durch die USA.
Es ist nicht so, dass ich täglich wehmütig auf das Etikett starre “6 key vital functions”, aber wegschmeissen tu ich den kleinen Plastikbecher auch nicht.
Die Socken, die ich den USA gekauft habe sind kaputt, die Sonnenbrille aus Amerika ist verloren gegangen und auch Melinas Haarprodukte aus den Staaten sind mittlerweile aufgebraucht.
Diese eine Tablette ist noch da und hält in ihrer weissen Plastik-Burg die Stellung.
Bald ist wieder Zeit aufzubrechen. Die ersten beiden Monate in 2024 reisen wir entweder
- durch Indien und Bangladesh,
- durch Südamerika (Argentinien, Chile, Bolivien, Brasilien)
oder
- durch Südostasien (Thailand, Laos, Kambodscha, Vietnam)
Vielleicht wird dann die letzte “One a day” letztendlich ihren Weg in meine Blutbahn finden. Ein kleines, und doch bezeichnendes, Stück USA.
Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Anschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.
- Alexander von Humboldt
Nächsten Freitag: Gleicher Ort, gleiche Zeit.
Wenn du möchtest antworte mir auf diesen Brief.
hochachtungsvoll
dein Felix