Vor mir an der Kasse von Penny steht eine Frau, die ich früher kannte, jetzt aber nicht mehr. Sie steht da mit einem Mann und ihrer Schwester.
Ich vermeide Blickkontakt, könnte den Supermarkt-Small-Talk nicht ertragen, weil er schmerzlich klar machen würde, dass uns, außer einiger Jugend-Jahre, nichts mehr verbindet - einfach ausgedrückt - dass wir alt geworden sind.
Ich denke an 2006. Der 24. Oktober. Wir waren 14. Sie, mein bester Freund und ich. Unser erstes Konzert: Stone Sour, Schlachthof Wiesbaden, Support-Act: Flyleaf - (Ich habe noch fast alle Konzert-Tickets…aber das fehlt)
Wir hatten lange Haare und Rucksäcke auf, während wir in der Menge auf und ab sprangen bis uns jemand darauf aufmerksam machte, wie sehr das nervt. Uns war das damals ziemlich egal.
Warum habe ich Angst mit ihr zu sprechen? Wegen dem was später zwischen uns war? Wegen der Ernsthaftigkeit in ihrem Gesicht? Oder in meinem?
Wir könnten uns vielleicht unterhalten, aber niemals hier an der Kasse, und niemals so direkt wie es 14 Jährige tun.
Ich weiß noch wie mein bester Freund und ich oft die halbe Nacht wach lagen und im Dunkeln redeten, Pläne schmiedeten. Schule, verliebt sein, Musik, Filme, Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke, die wir besorgen wollten, Videospiele. Zukunft… immer nur Zukunft.
In dieser Zeit kennen wir uns am Besten, wissen was den anderen bewegt, womit er kämpft, alles irgendwie auch etwas dramatisch, abgrundtief wichtig und ein wenig kaputt. Naive Außenseiter-Romantik, unverstanden… Alles vor uns.
Wie Protagonisten in aus einem Stephen King Roman…nur ohne amerikanische Kleinstadt und Clown.
Heute schaffen wir es mit Glück zwei Stunden in der Woche zu telefonieren. Wir kommen wie früher vom einen zum anderen und ich genieße die Zeit sehr, aber jedes Thema scheint gegenwärtig oder zurückgewandt. Wir schmieden keine idealistischen Pläne, reden nicht über Angelina Jolies Brüste, nicht über das, was wir in „Cyrodiil“ erlebt haben, oder darüber mit wem wir in MSN schreiben…und das ist gut und notwendig.
18 Jahre später werde ich Vater, bin verheiratet, trinke keine zuckerhaltigen Getränke, geschweige denn Alkohol, esse um 18 Uhr zu Abend und gehe vor 23 Uhr ins Bett. Ich stehe früh auf, versuche mich künstlerisch zu reflektieren, halte mich von absoluten Meinungen fern, laufe zur Arbeit, esse vegan und verzichte auf mein Smartphone. Ich versuche nichts Unnötiges zu kaufen, und investiere alles was übrig ist.
Alles ist auf Stabilität, auf Verlässlichkeit ausgerichtet. Ein guter Mensch, Partner und Vater sein. Das ist die Grundlage. Gesund und sicher.
In diesem Leben hat Exzess und Belanglosigkeit keinen Platz. Die Jugend existiert noch als Erinnerung und ich könnte, wie gerade, hin und wieder dorthin flüchten, mache es aber nicht. Warum? Weil es kein zurück gibt.
Das klingt schlimm, ist es aber nicht.
Ich mag mein Leben. Da ist viel Liebe, viel (Vor-)Freude und sogar genug Zeit das alles zu genießen. Nur JUNG wird man eben nicht mehr. Die Zeiteinheiten scheinen andere zu sein. Erwachsenen-Tage vergehen schneller, egal wie sehr wir sie entschleunigen und ganz unten im Bewusstsein, blinkt, gut geschützt, dann doch immer der Selbstzerstörungsknopf.
In 2006 war EMO angesagt, es gab das Motorola Razr, das ich mir nicht leisten konnte, wir bestellten bei EMP, hörten Metal und spielten Xbox 360, die ich kurz nach Release bei Galeria Kaufhof gekauft hatte. Es war das Jahr vor dem Iphone und Facebook und jemand auf Reddit nennt es: „least eventful year of the 2000s, a calm in a sea of storms“. Die Stürme waren 9/11 und Finanzkrise.
Ich habe spät die naiv, jugendliche Unschuld abgelegt. Das lag an Unsicherheit, Selbstzweifeln und langen Haaren. Ich hatte, trotz Metal-Nerd-Ausstrahlung die Möglichkeit einem Mädchen zwei Ligen über mir näher zu kommen, war aber in den entscheidenden Momenten unfähig und unreif.
Mit 16 wurde mir dann eine feste Zahnspange installiert (laut Kieferorthopädin „nötig“… als wäre sie nie jung gewesen), die jegliches Ausleben jugendlicher Energie, um ein paar schmerzhafte Jahre nach hinten drückte.
Nachdem die Spange raus und die Haare kurz waren, gab es ein paar Jahre wie sie in dem Alter sein sollten. Dates, Konzerte, Festivals, billiger Rotwein… wie am 8. Juli 2014 als Deutschland 7 zu 1 gegen Brasilien spielte, wir aber wichtigeres zu tun hatten. Einige Wochen später war diese Phase zu Ende und es kamen die Beziehungen.
Wer versucht diese Zeit „nachzuholen“ oder wiederzubeleben ist so leicht zu erkennen, dass ein eigener Begriff entstand: Midlife-Crisis. Das Gefühl „es noch mal wissen zu wollen“ noch „fit genug zu sein“ - Das bleibt immer ein Versuch.
Es kann immer nur eine schlechte Kopie sein und führt zu permanenter Rechtfertigung. Das beste Beispiel ist aktuell Anthony Kiedis (61) - Freundin Helena Vestergaard (19)… der kennt es gar nicht anders…mit ihm wächst die Midlife Crisis seit Jahren mit. Aber wer bin ich darüber zu urteilen. Älter werden tut eben manchmal weh.
Von 2006 habe ich so gut wie keine Fotos. Die Handys konnten gerade so Fotros machen, Kameras (ob analog oder digital) waren etwas für unsere Eltern und Daten-Backups waren noch nicht Normalität. Irgendwann verschwanden dann meine ersten externen Festplatten und SD-Karten, ganz leise, in den Containern der Wertstoffhöfe. Vielleicht ist das auch gut so. Selten habe ich mich in meinem Leben weniger wohl gefühlt als mit 14.
Der sicherste Weg die innere Unsicherheit wieder aufflackern zu lassen ist ein Klassentreffen. Die große Small-Talk-Anhäufung bei der es eigentlich nur um die Frage geht, wer sein Leben auf die Reihe bekommt und wer nicht… Dagegen ist ein Gespräch an der Kasse von Penny ein Spaziergang.
Neben mir liegt mein Nokia Tastenhandy, das nicht mal von Nokia produziert wurde. Es ist eine moderne Billig-Kopie, kein Original - das würde nämlich bald nicht mehr funktionieren… 2G wird 2025 abgeschaltet. Auf meinem Mac ist Whatsapp installiert, das mich in der Desktop-Variante doch irgendwie sehr an MSN erinnert… dieses Gefühl von damals kann es trotzdem nicht erzeugen… weil die Belanglosigkeit fehlt.
Bis zum nächsten Mal!
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